Der Anruf kam um vier Uhr Früh
- Martin Mayrl
- 8. Jan. 2024
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. Jan. 2024
Fassungslos haben meine Frau und ich Anfang 2022 beobachtet, wir der moskowitische Präsident Putin seine Streitmacht im Norden und Osten an der ukrainischen Grenze hat aufmarschieren lassen. Friedliche Truppenübungen hat er die Vorbereitungen zum zweiten Krieg gegen die Ukraine genannt. Glaub‘ ihm kein Wort, hat meine Frau gewarnt. Putin lügt sich seit seiner Hinterhofkindheit in St. Petersburg durchs Leben. Die Lügen dieses Diktators sind durch eine Blutspur durch Geschichte seit seiner Machtübernahme gezeichnet.

© Amnesty International, Foto Clara Sölch, Demonstration in Berlin am 27. Februar 2022 gegen schwerste Menschenrechtsverletzungen durch die moskowitische Soldateska
Das war nicht zu leugnen. Den klaren Blick auf die politische und gesellschaftliche Situation in Moskowien hatten im Westen weder Politiker noch die Bevölkerung. Sie wollten die Hoffnung nicht aufgeben. Die Abkommen von Minsk, die Bemühungen der EU und der EU-Regierungen, Putin im Sicherheitssystem der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu halten, großzügiges Entgegenkommen des Westens in vielen Sachfragen und die engen wirtschaftlichen Verknüpfungen zwischen den Volkswirtschaften von Ost und West: War das nicht einer der Hauptpfeiler europäischer Sicherheitsarchitektur? War das nicht das Fundament westlicher Friedenspolitik?
Um vier Uhr in der Früh des 24. Februar riss uns ein Anruf aus dem Schlaf. „Es geht los. Die Moskowiter marschieren nach Kiew“. Es war ein Donnerstag. Telefonate mit Freunden in der Ukraine und Gespräche mit Freunden in Österreich folgten. Das Wort von einem Blitzkrieg, von einem Enthauptungsschlag geisterte durch die Telefonate.
Das alles glaubte ich nicht: Wenn ein Volk, das unter großem persönlichem Einsatz für den Weg nach Europa kämpft, die Orange Revolution 2004 und den Euromaidan 2013/14 durchgeführt, die moskowitische Invasion 2014 mit der Besetzung der Krim und Teilen des Donbas durchgestanden hat, und wenn dieses Volk, an die 40 Millionen Menschen, den festen Willen hat, zur EU-Völkerfamilie aufzuschließen, kann auch eine Supermacht wie Moskowien das letztlich nicht verhindern.

© Ärzte ohne Grenzen, Bahnhof Lemberg, 27. Februar 2022
Im August 1991 ist die Ukraine aus der Sowjetunion ausgetreten und hat seine Unabhängigkeit erklärt. Am ersten Dezember desselben Jahres hat eine Mehrheit von gut 90 Prozent diesen Schritt in einer Volksabstimmung gutgeheißen. Diese Entscheidung haben die Ukrainerinnen und Ukrainer, egal welche Sprache sie sprechen und welcher Ethnie sie angehören, in den 31 Jahren bis zum Februar 2022 verteidigt. Sie werden sich weder ihr Land noch ihre Unabhängigkeit von Putin so einfach wegnehmen lassen, davon war ich überzeugt.
Bleiben oder gehen. Vor dieser Entscheidung standen am 24. Februar 2022 meine Frau und ich. Wir waren an diesem Tag im sicheren Österreich. Viele unserer Verwandten, Freunde und Bekannten lebten in der Ukraine. In Lemberg, in Kiew, in Odessa, in Charkiw, in den Dörfern und Städtchen dazwischen. Schon 2014, nach der Besetzung des Donbas, hatte meine Frau eine Tante in Luhansk verloren. Bleiben oder gehen? Freunde warnten. Freunde waren ratlos. Die entscheidenden Fragen im Leben muss jeder Mensch für sich allein beantworten. Aber wenn wir zurück in die Ukraine gingen, würden sie uns bei unserem Vorhaben unterstützen. Ein paar Tage später waren meine Frau und ich, unser Auto war vollgepackt mit Hilfsgütern für Flüchtlinge, unterwegs in die Ukraine.




