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Hilfe für alte Menschen

Flucht ist nicht Flucht. Junge Menschen, junge Familien fliehen leichter. Sie haben ihr Leben vor sich, wollen ihre Zukunft aufbauen, haben Pläne und Ziele. Und wenn diese Pläne hier nicht erreichbar sind, dann vielleicht an einem anderen Ort. Eltern gehen mit ihren Kindern meist rechtzeitig, bevor die Feinde in die Nähe des Dorfes oder der Stadt kommen. Sie brauchen Zukunft für sich selber, vor allem aber für ihre Kinder.



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Alte Menschen haben ihre Zukunft schon gehabt. Sie haben gelernt, in der Sowjetunion zu überleben, sich dünn zu machen, sich nicht erwischen zu lassen. Es ist zu spät, ein neues Leben zu beginnen. Wo denn auch? Nur eine kleine Wohnung, nur ein kleines Häuschen sind für die letzten Lebensjahre geblieben und eine Pension – vielleicht 80 Euro im Monat, mit Glück vielleicht auch hundert. Der Garten ist wertvoll. Gemüse und Salat im Sommer, ein paar Erdbeeren und Äpfel im Herbst und für Erdäpfel für den Winter.


Im Winter lässt sich ein Zimmer mit Gas heizen. Aber Gas ist teuer. Deshalb heizen manche alten Menschen nicht oder nur ein paar Stunden am Tag und leben frierend in einen schweren Wintermantel gehüllt in ihren Häuschen.


Viele alte Menschen haben Glück. Sie haben eine Tochter, einen Sohn. Millionen Ukrainerinnen leben im Ausland, betreuen und pflegen alte Menschen, gehen putzen oder machen unbeschadet ihrer Qualifikation ganz einfache, schlecht bezahlte Arbeit. Aber wenn die Tochter ihrer Mutter oder ihrem Vater auch nur 80 Euro im Monat geben kann, ist die Pension schon verdoppelt, das Leben ein bisschen leichter.


Alte Menschen fliehen nicht. Man könnte sagen, sie werden geflohen. Sie werden evakuiert, wenn gar nichts mehr geht. Wenn es keine Heizung, kein Wasser und keine Lebensmittel mehr gibt. Wenn sie tatsächlich vor der Wahl stehen, weggebracht werden oder verhungern und erfrieren oder von der nächsten Granate zerfetzt zu werden. Flucht hat etwas Freiwilliges. Ein Mensch entscheidet sich für die Flucht. Flucht ist ein anderes Wort für Hoffnung, so klein die Hoffnung auch sein mag.


Alte Menschen fliehen nicht. Und manche wollen auch nicht evakuiert werden.


Ihre wichtigsten Helfer sind Menschen wie Emma und Anthony, die für diese Aufgabe ihr Leben gegeben haben, die wissen, dass jede Versorgungsfahrt die letzte Fahrt ihres Lebens sein kann. Die von den Soldaten gewarnt werden, nicht in jenes Dorf zu fahren, weil die Moskowiter zu nahe sind und auf der Lauer liegen und die trotzdem fahren, weil die alten Menschen dort schon tagelang kein frisches Wasser mehr bekommen haben.


Wenn solch alte Menschen dann doch zu uns kommen, brauchen sie nichts. Alles ist schön und gut. Sie erinnern mich an Peter Handke, Wunschloses Unglück: Menschen, die so wenig haben, dass sie nicht einmal bemerken, was ihnen fehlt. So wie Iwan, der Bergknappe. Sein Leben lang hat er in seinem Dorf im Kohlebergbau gearbeitet. Schwere Arbeit. Bei uns hat er alles. Eine Hose, ein Hemd, ein Bett, einen Mitbewohner in seinem geheizten Zimmer und zu essen. Alles, was ein Mensch braucht. Manchmal ist er krank. Dann bringen wir ihn ins Krankenhaus. Die Lunge und der viele Kohlenstaub im Berg. Iwan, brauchst du etwas. Nein danke, ich habe alles.

 
 
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